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Unverwundbar?

Von den zahlreichen Ostergeschichten, welche das Neue Testament überliefert,
berührt mich eine ganz besonders: Die Freunde Jesu sitzen hinter verschlossenen
Türen. Da tritt der Totgeglaubte in ihre Mitte und sagt: Friede sei mit euch! Und er
zeigt ihnen seine verwundeten Hände und seine verletzte Seite (Joh. 20,19f.)

Liegt nicht ein uralter Menschheitstraum darin, Wunden gar nicht erst entstehen zu
lassen? - So tötet Siegfried, der Held des Nibelungenliedes, den gefährlichen
Drachen und badet in dessen Blut, um dadurch unverwundbar zu werden. Doch
während des Bades fällt ein Lindenblatt auf seine Schulter und dort bleibt in alle
Zukunft hinein ein verletzlicher Punkt. Ähnlich ergeht es Achilles, dem Helden von
Troja: Seine Mutter wollte auch ihn unverwundbar machen. Darum taucht sie ihn
nach der Geburt in den Fluss der Unterwelt. Doch dazu muss sie ihr Söhnlein an
der Ferse festhalten. Und so bleibt auch bei ihm eine verletzbare Stelle, die
sogenannte "Achilles-Ferse".


Unsere Filme sind voll von solchen Heldengestalten. Doch im Grunde wissen wir
ganz genau, wie verletzlich wir sind. Schon über Nacht kann altes anders werden.
Das hat uns die Corona-Pandemie einmal mehr schmerzlich bewusst gemacht.


Am Karfreitag hat sich Jesus tödlich verwunden lassen. Und seine Wunden bleiben
ihm eingeprägt über seine Auferweckung hinaus. Mitsamt seinen Wundmalen
begegnet er seinen Freunden, nicht als einer, der über den Schmerz hinweg,
sondern als jemand, der durch den Schmerz hindurch gegangen ist.


lch höre ihn heute sagen: Vor mir brauchst du deine Wunden und Narben nicht zu
verstecken. Ich kenne dich. Und ich verstehe dich. Und ich weiss auch um den
Punkt deiner Lebensgeschichte, an dem du ganz besonders verwundbar bist.
Öffne dich. Besiege dein Misstrauen. Und erlaube mir, in deine Tiefen
einzudringen. Denn ich will dich heilen, Schritt für Schritt. Friede sei mit dir! Lass
dich versöhnen mit deiner Lebensgeschichte. Und lass dich versöhnen mit deinen
Mitmenschen.


Ist es denn nicht zutiefst menschlich, verwundbar zu sein? - Alfred Delp, ein
Märtyrer des 2. Weltkrieges, schreibt: "Gott bewahre uns vor der Hornhaut der
unheilbar Gesunden, vor jenem Menschentyp, vor dem selbst der Geist Gottes
ratlos steht und keinen Eingang findet, weil nämlich alles mit bürgerlichen
Sicherheiten und Versicherungen umstellt ist". Ja, die Sicherheit wird in unseren
Tagen gross geschrieben. Aber es gibt auf dieser Welt keine letzte Sicherheit. Was
es gibt, ist die Schulter des Siegfried und die Ferse des Achilles. Und was es
ebenso gibt, ist das Wort des österlichen Christus: Friede sei mit euch!

Christoph Naegeli

Christoph Naegeli hätte unter normalen Umständen den Gottesdienst am 19. April geleitet.