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5. Sonntag nach Ostern (Rogate)

In der Klosterkirche zu Vezelay, in Burgund, zeigt das Kapitell einer Säule zwei Darstellungen des Judas, also des Jüngers, der Jesus verriet.

 

Das erste Relief stellt das Ende des Verräters dar. Judas hängt am Strick.

So hat er nach Matthäus 27,3-5 sein Leben beendet.


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Das zweite Relief auf der Rückseite des gleichen Kapitells überraschte mich über alle Massen.

Da steht Jesus, unverkennbar. Er hat den Strick um den Hals von Judas gelöst und trägt den toten Freund auf seinen Schultern.

 

Den, der ihn verraten hat. Dabei entspricht die Armhaltung Jesu der eines Hirten, welcher ein Schaf auf seinen Schultern trägt. Damit wollte der Steinmetz an die Worte vom guten Hirten erinnern. Er lässt die 99 Schafe in der Wüste, um das eine verlorene Schaf zu suchen, siehe Matthäus 18,12-13

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Selten habe ich in einem Kunstwerk mich auf Anhieb so gut wiedergefunden. Besser kann ich mein Verständnis von Jesus Christus, dem Sohn und damit auch von Gott, dem Vater, kaum in Worte fassen.

Zu der Zeit, als dieses Kunstwerk im 12. Jahrhundert entstand, war die Gestalt des Judas zum Inbegriff des Bösen geworden. Judas ist schlimmer als Kain, der seinen Bruder erschlägt und schlimmer als Ödipus, der seinen Vater tötet und seine eigene Mutter heiratet. Judas ist der Schlimmste der Schlimmen und zudem hat er Suizid begonnen. Damals galt dies als eine besonders schlimme Sünde. Und ausgerechnet den, diese verhasste Person trägt Jesus auf seinen Schultern.

Seinetwegen hat Jesus seine Herde, seine Kirche, allein gelassen und sich auf die Suche gemacht. Das war nicht nur eine Sensation, sondern eine theologische Zumutung.

 

Ich frage mich bei dieser Vorstellung: ist das wahr? Hätte Jesus seinen Verräter wie ein verlorenes Schaf gesucht und gerettet? Hat er es getan? Es muss doch eine letzte Gerechtigkeit geben! Die Bösen müssen doch bestraft werden, wenigstens die Schlimmsten? Diesen Gedanken will ich heute nicht weiter verfolgen. Ich hebe ihn für ein anderes Mal auf.

 

Trotzdem. Ist nicht jeder in der Lage Jesus für ein paar Franken zu verraten? Ist nicht jeder irgendwann einmal von Gott so enttäuscht, dass er sich völlig verrennt und schuldig wird?

Dieses Bild erzählt die Wahrheit.

 

Judas, dieser Inbegriff des Bösen steckt in mir, und er steckt möglicherweise in jedem Menschen:

schuldig geworden, gescheitert, innerlich zerbrochen. Und trotzdem wird er von Jesus nicht zurück gelassen, nicht vergessen oder übersehen. Selbst der tote Judas wird von Jesus mit Respekt und Ehrerbietung nach Hause geholt. Auch für ihn hat er sein Leben gelassen.

 

So ist Jesus. Er trägt mich und er trägt alle, die Glücklichen und die Zerbrochenen.

 

Keine Schuld kann so schlimm, kein Leben so zerstört sein. Das ist der Grund, warum ich auf ihn vertraue – Jesus Christus vergisst und verlässt uns in keiner Situation und mag sie noch so schlimm sein.